Ärger und Wut – Gewalt und Aggression
Emotion
Ärger und Wut sind menschliche Emotionen. Für die Handlung eines Menschen ist es entscheidend, wie er mit Ärger oder Wut umgehen kann und über welche kognitiven, sprachlichen und psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten er verfügt. Fehlen die Möglichkeiten Ärger oder Wut nach einer gewissen Zeit zu verarbeiten ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich diese Emotionen in Aggression verwandeln.
Verhalten
Aggression bezeichnet ein Verhalten. Ziel aggressiver Verhaltensweisen ist die aktive Beschädigung von Gegenständen oder Verletzung von Individuen. Aggressives Verhalten hat viele Erscheinungsformen und unterschiedlichste Intentionen.
Handlung
Gewalt bezeichnet eine Handlung. Es wird von Gewalt gesprochen, wenn das menschliche Bedürfnis nach psychischer und physischer Unversehrtheit missachtet wird. Jede tatsächliche Aggression ist immer auch Gewalt, umgekehrt ist nicht jede Gewaltanwendung immer auch Aggression.
Gewalt und Aggression im Gesundheits- und Sozialwesen
In nahezu jedem menschlichen System entstehen irgendwann aggressive Verhaltensweisen aus der Dynamik zwischenmenschlicher Interaktionen. Um den bestmöglichen Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen zu lernen, besteht im System des Gesundheits- und Sozialwesens eine besondere Notwendigkeit sich gründlich mit der Entstehung von Gewalt und Aggression auseinander zu setzen.
Was sind die Ursachen aggressiver Verhaltensweisen von Klient*innen?
Mitarbeitende des Gesundheits- und Sozialwesens sind bei ihrer Arbeit mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten konfrontiert. Abwehrende, aggressive oder befremdliche Verhaltensweisen von Klient*innen sind keine Seltenheit. Für einen professionellen Umgang ist es unerlässlich, die vielfältigen Ursachen für Aggression zu kennen, um die Klient*innen besser zu verstehen.
Individuelle Ursachen
Oft ist Aggression eine Verhaltensreaktion auf Emotionen und Gefühle. Sie kann unmittelbar als Folge einer wahrgenommenen Provokation oder Kränkung auftreten. Entscheidend dabei ist das subjektive Erleben der Klient*innen. Wohlwollend gemeinte Aussagen oder Handlungen können vom Empfänger falsch interpretiert werden und dadurch zu negativen Gefühlen führen. Nicht immer sind Klient*innen in der Lage, auf belastende Emotionen angemessen zu reagieren, wodurch die Wahrscheinlichkeit aggressiver Verhaltensweisen steigt.
Psychologische Ursachen
Auch psychologische Ursachen können aggressive Verhaltensweisen begünstigen, zum Beispiel Angst und Hilflosigkeit. Wenn Menschen daran gehindert werden, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, entsteht Frustration, die wiederum aggressives Verhalten fördert. Auch ein Selbstwertverlust ist eine mögliche Ursache für Aggression. Mitarbeitende im Gesundheits- und Sozialwesen führen im Umgang mit ihren Klient*innen oft helfende Tätigkeiten aus. Hilfe zu bekommen wird jedoch nicht immer positiv aufgefasst. Manchmal kann dadurch bei Klient*innen das Gefühl entstehen, als unselbständig oder abhängig wahrgenommen zu werden. Dies kann zu einem Selbstwertverlust führen, was wiederum aggressives Verhalten fördert.
Neurologische Ursachen
Manchmal liegen der Aggression neurologische Ursachen zugrunde. Bestimmte Hirnstrukturen wie zum Beispiel die Amygdala oder der Hippocampus sind an der Kontrolle des emotionalen Erlebens und Verhaltens beteiligt. Hirnschädigungen, zum Beispiel durch Unfälle oder Erkrankungen, können aggressives Verhalten oder Gewalt begünstigen. Auch Neurotransmitter wie Dopamin oder Serotonin spielen dabei eine Rolle. Sie ermöglichen den Informationsaustausch zwischen den Nervenzellen. Ein Ungleichgewicht kann das Auftreten von Aggression begünstigen.
Systemische Ursachen
Auch systemische Ursachen sind bei der Entstehung von Aggression wesentlich. Straff organisierte Prozessabläufe und Regeln können dem Wunsch der Klient*innen nach Selbstbestimmung entgegenstehen. Dadurch entstehen Konflikte, die zum Auftreten aggressiver Verhaltensweisen beitragen.
Das ProDeMa®-Stufenmodell zur Deeskalation von Gewalt und Aggression
Das Stufenmodell der Deeskalation stellt anschaulich dar, auf welchen unterschiedlichen Ebenen die Deeskalation oder Vermeidung von Gewalt und Aggression stattfinden kann. Dabei greifen sämtliche Deeskalationsstufen in ihrer Wirkung ineinander und müssen deshalb alle bei der Implementierung und Schulung in Institutionen berücksichtigt werden.
Primärprävention
Deeskalationsstufe 1
Verhinderung der Entstehung von Gewalt und Aggression
Auf dieser Ebene beschäftigen wir uns vorrangig mit den äußeren Rahmenbedingungen, die auf die Entstehung von Gewalt- und Aggressionen bei Patienten/Betreuten, Bewohnern und Klienten entscheidenden Einfluss haben, d.h. es werden alle aggressionsauslösenden Reize reflektiert. Hierzu gehören z.B. die Analyse der Stationsregeln, Hausordnungen, der Umgang von Personal mit Patienten/Betreuten, die Zumutung von Wartezeiten, Überforderungssituationen etc.
Deeskalationsstufe 2
Veränderung der Bewertungsprozesse aggressiver Verhaltensweisen
Persönliche Bewertungsprozesse beim Umgang mit aggressiven Patienten/Betreuten entscheiden über die Reaktion, die zur Eskalation oder Deeskalation der Situation führen kann. Auf dieser Ebene reflektieren wir unsere eigenen Wahrnehmungs- und Bewertungssysteme und lernen, uns von der momentanen Befindlichkeit des Patienten/Betreuten und seinen verbalen Aggressionen abzugrenzen. Zusätzlich reflektieren wir die Entstehung unseres eigenen Aggressionspotentials und erarbeiten eigene Umgangs- und Bewältigungsmöglichkeiten von Wut- und Ärgergefühlen.
Deeskalationsstufe 3
Verständnis der Ursachen und Beweggründe aggressiver Verhaltensweisen
Aggressive Verhaltensweisen eines Menschen haben immer eine Ursache (Auslöser) und einen Beweggrund (Motiv, Intention). Die Kenntnis und das tiefere Verständnis dieser Ursachen und Beweggründe ist Voraussetzung dafür, deeskalierend auf einen Patienten/Betreuten eingehen zu können. Durch die Wahrnehmung seiner aktuellen Bedürfnisse, Probleme und Gefühle hinter den aggressiven Verhaltensweisen können wir mit ihm in Kontakt kommen, ihn verstehen und beruhigen, ihm und uns selbst helfen, die Situation zu meistern und eine weitere Eskalation zu verhindern.
Sekundärprävention
Deeskalationsstufe 4
Kommunikative Deeskalationstechniken im direkten Umgang mit hochgespannten Patienten/Betreuten
Eine Deeskalation ist dann erfolgreich, wenn die aggressive Spannung und innere Not des Patienten/Betreuten abnimmt und es gelingt, ein klärendes oder entlastendes Gespräch mit ihm zu führen, indem Lösungen für seine aktuellen Probleme und Befindlichkeiten gefunden werden. Welche Art der Kommunikation und Gesprächsführung ist förderlich im direkten Umgang mit hochgespannten Patienten/Betreuten? Wie kann ich eine akute Eskalation verbal deeskalieren? Wie verhalte ich mich, wenn Brachialaggression kurz vor dem Ausbruch steht? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigen wir uns auf dieser Ebene der Deeskalation.
Deeskalationsstufe 5
Patientenschonende Abwehr- und Fluchttechniken
Die Anwendung körperlicher Abwehrtechniken sollte das letzte Mittel der Gefahrenabwehr sein. Sie sollten nur angewendet werden, wenn alle anderen Möglichkeiten der Deeskalation ausgeschöpft sind. Wir lernen dafür speziell entwickelte patientengerechte, körperschonende und verletzungsfreie Techniken, die Unfallrisiken auf beiden Seiten auf ein Minimum reduzieren.
Deeskalationsstufe 6
Patientenschonende Begleit-, Halte-, Immobilisations- und Fixierungstechniken
In vielen Situationen müssen Patienten/Betreute bei Selbst- oder Fremdgefährdung festgehalten oder immobilisiert werden, um weder sich selbst noch andere Personen zu gefährden. Auch die Begleitung einer verwirrten betagten Dame oder eines alkoholisierten Patienten erfordert große Vorsicht und entsprechendes Knowhow. Unsere Begleit-, Halte- und Immobilisationstechniken werden seit Jahren erfolgreich angewendet und sind flexibel hinsichtlich unterschiedlicher Patientenklientel oder Situationsgegebenheit. Durch die Integration der verbalen Deeskalation in Halte- und Immobilisationstechniken haben wir mit dem Vier-Stufen-Immobilisationskonzept (4-SIK) Fixierungen annähernd überflüssig gemacht. Studien belegen eine über 70%ige Reduzierung der Fixierungsdauer und -häufigkeit durch die Anwendung dieser Methode.
Tertiärprävention
Deeskalationsstufe 7
Präventive Möglichkeiten nach aggressiven Vorfällen
Durch Übergriffe oder Sonstige Ereignisse werden Mitarbeiter traumatisiert und brauchen eine Kollegiale Ersthilfe und Nachsorge, um in dem Schutz ihrer Kollegen das Geschehene verarbeiten zu können. Je besser die Kollegiale Ersthilfe und die Nachsorge in einer Institution organisiert ist desto mehr werden Posttraumatische Belastungssyndrome mit langen Krankheitsausfällen und starkem Leid bei den Betroffenen vermieden.
Geschehen Übergriffe oder sonstige aggressive Vorfälle haben die betroffenen Mitarbeiter den Bedarf einer Professionellen Nachbearbeitung mit dem Ziel der Tertiärprävention. Die systemische Ansicht ermöglicht es, alle am Geschehen beteiligte Personen oder Faktoren zu reflektieren, um zukünftige ähnliche Vorfälle vermeiden zu können.